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SECONDARY RESIDENCE GRAZ TAG#5
Ich kenne mich mit Kunst kaum aus, ich weiß nur, welche Gedanken mir im Kopf herumschwirren. Zum Beispiel: Der Straßenlärm, den ich als laut empfand, wurde von Sandra nicht wahrgenommen und Daniela interpretierte ihn positiv als Lebendigkeit. Ich hoffe, dass die, die neben der Straße leben, diesbezüglich mehr wie die beiden sind. Ähnlich ist es sicher auch bei der Wahrnehmung des Viertels durch seine Bewohner:innen – es wird geliebt, gehasst und alles dazwischen. Manche werden es als ihre Heimat sehen, manche maximal als Zweitwohnsitz, während ihre Herzen bei ihren Lieben in anderen Ländern sind, manche als Ort der Sicherheit im Vergleich zu den Orten, von denen sie geflohen sind… und manche nehmen den Ort vielleicht gar nicht wahr, sind vielleicht mit ihren prekären Jobs oder persönlichen Problemen so belastet, dass die Umgebung unwichtig ist. So wie ich im Viertel üblicherweise ja auch nur von Punkt zu Punkt unterwegs bin, d.h. mein Blick v.a. auf der Straße ist – und wenn ich wo etwas essen will, überlege ich wie ein Navigationssystem, wo ich bin und was in der Nähe ist. Bzw. welche Lokale, die ich kenne, in der Nähe sind. Meine „Mental map“ hat netterweise in den letzten Tagen einige neue „Einträge“ erhalten, ich werde künftig ein bisschen mehr Auswahl beim Essen haben. Und zu Yusuf, dem netten und wirklich witzigem Wirt, mit dem Daniela ins Gespräch kam, nachdem er sie nach ihrer „Herkunft“ fragte, gehe ich künftig vielleicht auch deshalb, weil er Kundschaft wirklich gebrauchen kann. Seine Preise sind im Vergleich zu den allgemeinen Preissteigerungen in letzter Zeit noch moderat, aber dennoch zu hoch für viele Leute in der Umgebung (es sind uns einige „Essensautomaten“ aufgefallen und das englische Pub gleich bei ihm ums Eck hat scheinbar mittlerweile nicht mehr geöffnet – nur von außen sieht es noch aus wie davor).
Beim Essen und Trinken erfuhren wir heute viel über zwei Lokalpächter, ihre unterschiedlichen Lebenswege, ihre Wünsche und ihren Alltag. Im einen Lokal sind die Anwesenden abends schon sehr betrunken. Sie scheinen mir fast wie eine Familie – sie haben sich gegenseitig bis sie genug getrunken haben. Nach Hause kommen muss man noch – etwa 90 % derer, die regelmäßig dort sind, wohnen in Fußdistanz.
„Woher kommst du?/Woher kommen Sie?“ – diese Frage kommt den meisten völlig harmlos vor. Man denkt nicht daran, was es mit jemandem macht, wenn man diese Frage ständig gestellt bekommt. „Es kommt auch auf die fragende Person und auf die Situation an“, erklärt mir Daniela. Wie wichtig solche Gespräche doch sind, um untereinander einfühlsamer sein zu können!
Abends ist die Straße sogar mir ruhig genug, dass ich fast das Gefühl habe, ich „flaniere“ an ihr entlang durch Viertel. Hier ist es, wo der Bewohner gemeint hatte, es sind so viele Döner-Shops nebeneinander, dass man gerade sehr günstig einen kaufen kann. Und wir sehen auch einen günstigen Friseur. Ein Geschäft mit Gewürzen und frischen türkischen Süßigkeiten hat um 20:45 noch geöffnet. Die einzige Verkäuferin trägt Kopftuch und spricht akzentfrei Deutsch. Ich suche (nachdem wir uns ein wenig mit Kaffee und Süßem eingedeckt haben) beim Hinausgehen nach den Öffnungszeiten an der Fensterscheibe und finde keine. Eine Stunde später ist das Geschäft dann aber doch geschlossen.
Überhaupt Einkaufen… es ist spannend zu sehen, was es an Lebensmitteln gibt, die in den Geschäften, in denen ich meine Einkäufe tätige, nicht zu finden sind: frische Minze, verschiedene Sorten Pfefferoni, Okra… und natürlich Baklava und viele fertig verpackte Lebensmittel und Süßigkeiten, durch die man sich durchprobieren könnte. Bei den Keksen haben wir drei Sorten probiert – sie sind uns tendenziell zu süß.
Und damit ich nicht nur vom Essen schreibe, erwähne ich noch den Mann, der vorm Geschäft seines Sohnes (?) steht und mit den Nachbar:innen redet, so dass er mir fast einsam vorkam. Und das Projekt, von dem wir gehört haben, das mir gut gefiel, bei dem es darum geht in Schulen und Kindergärten präventiv mit Kindern zu arbeiten, weil Rassismus ja erlernt wird. Und dass Yusuf uns erzählte, dass Leute, mit denen er zum ersten Mal eine Weile spricht, manchmal ausländerfeindlich sind, aber nach einer einem kurzen Gespräch mit ihm sind sie es zwar theoretisch immer noch, aber sie meinen „naja, DU nicht“.
Es ist mehren Gesprächspartner:innen wichtig, dass unser Output Gries nicht darauf reduziert, dass hier Menschen aus 131 Nationen leben. Auch den Begriff „Integration“ sehen einige kritisch, da „der Mainstream ihn sich einverleibt hat“.
Viele Eindrücke und Informationen werden auch noch Zeit brauchen, sich „zu setzen“ – aber dennoch diskutieren wir weiterhin mit viel Energie über mögliche Kunstprojekte (mehr als Kunstobjekte). Das wird wohl auch die nächsten Tage noch so sein. Und so lerne ich auch noch mehr über Kunst und was wie umsetzbar ist oder nicht. Danke an meine WG-Kolleginnen für eure Geduld mit mir!