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Secondary Residence Graz Tag#2
Graz, Gries, abends etwas kälter als gestern
Wir haben die Nacht gut verbracht und das Zusammenleben klappt. Wir ergänzen uns bisher wunderbar. Zur Erläuterung des Blogs ist es notwendig anzumerken, dass wir für diesen immer einen “Schreiberin des Tages” haben. Es ist uns wichtig, dass wir die unterschiedlichen Blickwickel und Wahrnehmungen und Interessen klar kommunizieren und respektvoll mit dem Text der jeweiligen umgehen. Das heißt, wir arbeiten den Text nicht um und “verstümmelt” damit die Meinung von einer von uns. Im Sinne von “ALLERland” haben wir diese Vorgehensweise gut verhandelt. Es ist nicht so, dass wir nicht darüber diskutieren, was wir erlebt haben. Das Gegenteil ist der Fall. Das sehen wir als positiven Impakt und als Teil dieses Projektes. Wie geht das gute Zusammenleben? Es gibt andere Meinungen und Wahrnehmungen. Wir respektieren diese. Die Vielfalt der Meinungen macht unsere Welt aus.
Heute hat Steffi das Wort.
Die stark befahrene Kreuzung, etwas zwei Blocks von unserer Wohnung entfernt, weist Besonderheiten auf. Es erscheint uns so, als würde nichts zusammen passen. Die vier Hauptstraßen stehen nicht rechtwinkelig zu einander und es wimmelt von Mopeds, Autobussen und Autos. Die Gebäude sind teilweise bunt, teilweise grau und alle haben einen Schmutzschicht. Wir sind mit unseren Fahrrädern unterwegs und wählen eine kleine ruhige Seitenstraße entlang des traurigen Bachs (Mühlgang).
Wir landen bei einem Park, der so wirkt als wäre er von Landschaftsarchitekt:innen gestaltet worden inklusive eines Teichs umschmeichelt von sanften Hügeln und Steinelementen. Dieser Park scheint von zwei Seiten zugängig zu sein und könnte gefühlt nicht viel unterschiedlicher sein als ein weniger als 500 m entfernter kleinerer Park: Nicht nur, dass er so versteckt ist, dass manche lang-in-Graz-Lebende ihn nicht kennen und man kein Auto hört, während der kleinere mit seiner Längsseite neben einer der vier größeren Straßen liegt und eine Aufenthaltsqualität aufgrund des Lärms kaum gegeben ist. Und hier gibt es unterschiedliche Sichtweisen: die eine würde gerne dazu tanzen und die andere hört es nicht einmal. Daher haben wir uns die Vorgehensweise im ersten Absatz entschieden.
Die Gebäude nach dem Durchqueren des „versteckten Parks“ sind noch neuer und „ordentlicher“ als die auf der anderen Seite (besonders ein Gebäude für betreutes Wohnen für Senior:innen) und stimmt es, dass im kleineren Park trotz ausreichend Mülleimern auch mehr Müll am Boden liegt oder kommt es uns aufgrund der vorher genannten Unterschiede nur so vor?
Weiter auf einem Fuß- und Gehweg zum Südende des langgestreckten Hauptplatzes des Viertels, welcher mit seinen zwei kleineren Aufenthaltsflächen am nördlichen Ende eher wie eine Durchzugsstraße wirkt als ein Platz. Ein einziger kleiner Gastgarten sticht ins Auge – später werde ich bei näherem Hinsehen noch ein paar Stühle mehr auf Gehsteigen entdecken.
Vor Jahren gab es eine Bürger:innenbeteiligung zur Gestaltung des Platzes – ausgenommen die Verkehrsführung… von der aktuellen Regierung wurde eine Veränderung für den Verkehr beschlossen, welche – wie bei diesem Thema so üblich – den einen ein Dorn im Auge ist, während sie den anderen nicht weit genug geht.
Noch etwas fällt uns an dem Platz auf: Die üblichen Handelsketten fehlen – sowohl Supermärkte, als auch andere Geschäfte sind nicht Filialen eines größeren Unternehmens – oder zumindest nicht, dass wir wüssten.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite des kleinen Parks reihen sich mehrere Döner-Restaurants beinahe aneinander – eine guter Ort um billig einen Döner zu essen, wie wir von einem Viertelbewohner erfuhren. Auch zum Friseur gehen, kann sich in der Gegend auszahlen.
In derselben Straße einer der zwei Supermärkte einer großen Kette. Der nächste Zebrastreifen, der allen, die von südlich der Straße statt von nördlich kommen, einen sicheren Zugang ermöglichen soll, ist so weit weg, dass wir uns fragen, ob es irgendjemanden gibt, der ihn benutzt oder ob alle die vielbefahrene Straße einfach so überqueren.
Ein bisschen fragen wir uns, ob es in einem anderen Viertel an so einer Stelle einen Zebrastreifen gäbe – oder ein Geschäft der konkurrierenden Supermarktkette für das Gebiet südlich der Straße.
Zurück zur großen Kreuzung. In etwa diagonal gegenüber der Straße zum „versteckten Park“ kennt Sandra ein sehr kleines libanesisches Café, welches in toller Atmosphäre weit mehr bot als ein übliches Café hierzulande. Wunderbar gestärkt trafen wir einmal zufällig, einmal spontan zwei Frauen, die bereitwillig ihr großes Wissen zu dem Viertel mit uns teilten. So erfuhren wir neben vielem anderen noch einige Orte, die wir uns in den kommenden Tagen ansehen wollen.
Und konnten, nachdem wir die Gründungsgeschichte von ISOP, einer Non-Profit-Organisation gelesen hatten, welche mit Beratung, Bildung und Beschäftigungsprojekten Migrant:innen, Flüchtlinge, (Langzeit-)Arbeitslose und Menschen mit Basisbildungsbedarf unterstützt und seit 1987 auf ca. 160 Mitarbeiter:innen gewachsen ist, gleich zwei Institutionen besuchen, die sich auf verschiedene Art(en) um die Menschen der Nachbarschaft bemühen. Zu einer der beiden dürfen wir morgen zum Mittagessen wiederkommen und dessen Teilnehmer:innen treffen.
Nach so viel Information wollten wir wieder etwas „für die Sinne“ – und gingen zum angeblich besten Baklava. Auf dem Weg erinnert der Text auf zwei zugeklebten Schaufenstern und einem Schild eines Geschäftslokals in einer eher engen Seitenstraße an die Gefahr weiterer Mietsteigerungen: „Hier entsteht Ihr Merwertinvestment“ steht über der Tür, „Top LAGE ist kein Luxus, sondern ein Geschäftsmodell“ am rechten Fenster.
Das Gespräch beim Baklava-essen führte über das Thema „Kaffeesatzlesen“ dazu, dass Logik in manchen Kulturen besonders wichtig ist, während in anderen z.B. auch Dinge, die die Logik vielleicht als „Esoterik“ bezeichnet, ihren Platz haben.
„Reading the territory through the language of coffee“ schrieb Daniela zum Foto des Kaffeesatzlesens.
Nach weiterem Erkunden des Viertels sind wir mit Eindrücken voll und begeben uns nach einem netten Abschiedsessen mit Paloma, Vanessa, Maxime und Yann direkt (aber zumindest über eine Gasse, in der wir noch nicht waren) nach Hause.